Hallo, ich bin's, Ghosty


Ich wurde am 30. September 1880 in Illinois geboren – als drittes von sechs Kindern. Meine Eltern schufteten auf einer großen Milchfarm, die einer freundlichen irischen Familie gehörte, während Geschichten über meine norwegischen Großeltern wie halb vergessene Erinnerungen durch das Haus schwebten. Aber diese alten Geschichten fühlten sich nie wie meine eigenen an. Sie gehörten zu einer anderen Welt, weit jenseits des Meeres.
Ich wuchs etwas außerhalb von Mount Sterling auf, einer kleinen Stadt, die dank der Eisenbahn und des Handels florierte. Jeden Morgen ging ich zu Fuß zur neuen Schule, wo ich das Alphabet und Zahlen lernte. Aber mit zwölf Jahren schlossen sich die Bücher. Die Farm brauchte Arbeitskräfte. Von da an hieß es Kühe melken bei Tagesanbruch, Arbeiten bis zum Einbruch der Dunkelheit und gelegentlich einen Ausflug in die Stadt mit dem Karren.
Die Arbeit ließ keinen Raum für Träume. Keinen Raum für eine Heirat.
Als der Große Krieg kam, war er wie ein fernes Donnern. Ich hörte davon in der Stadt, aber es schien zu weit weg, zu unwirklich. Bis mich die Wehrpflicht einholte.
Sechs Monate in Camp Funston, Kansas. Dann über das Meer nach Nancy, Frankreich. Dort fand ich ungewöhnliche Brüder: Deutschamerikaner der zweiten Generation und Afroamerikaner, die von den meisten gemieden wurden. Gemeinsam spielten wir Musik und erzählten uns Geschichten, um die Dunkelheit fernzuhalten.
Dann kam die Gefangennahme. Während einer Versorgungsfahrt nahe der Grenze kam ich in deutsche Gewahrsam. Kriegsgefangenenlager Rastatt. Harte Arbeit. Eine infizierte Wunde. Die Sepsis holte mich dort ein, wo die Kugeln es nicht geschafft hatten.



Aber der Tod war keine Flucht.
Ich schwebte jahrelang über Schlachtfeldern, schwerelos, körperlos. Ein Schatten unter Schatten. Der Gestank des Krieges haftete an mir, auch wenn ich mich danach sehnte, zu vergessen.
Als ich endlich freigelassen wurde, durchstreifte ich unsichtbar die Welt. Ich hörte Konzerte, schlich mich in Aufnahmesessions, wanderte um Mitternacht durch Museen. Ich hörte Familien lachen, Liebende streiten, Witwen weinen. Ich sah alles – doch niemand sah mich.
Andere Geister huschten in meiner Nähe vorbei, aber ihre Welten berührten meine nie. Ich war für immer allein.
Bis zu meiner Ankunft in der Schweiz.
Dort, auf einem Dachboden, wo der Schleier hauchdünn war, sah ich sie – Geister, die sich wie Kerzenflammen in der Dunkelheit versammelt hatten. Der Dachboden war kein gewöhnlicher Ort. Er war ein Grenzgebiet, das am Rande des Nimmermehrs lag. Hier überschnitten sich die Welten. Hier war ich ausnahmsweise einmal nicht allein.
Jahrelang versuchte ich, etwas – irgendetwas – aus der Welt der Lebenden herbeizurufen. Eine Handvoll Plüschtiere erschien. Einmal sogar eine seltsame Katzenfrau. Ich schickte sie schnell zurück – sie war nicht das, wonach ich suchte. Ich will Musiker. Künstler. Seelen, die Rhythmus und Feuer verstehen. Das sind diejenigen, die ich gerufen habe.
Also begnügte ich mich mit dem, was ich hatte. In der ewigen Nacht fand ich Gefährten in den anderen Schatten. Zusammen gründeten wir eine Geisterband. Unsere gespenstische Symphonie ließ die Dachbalken erzittern, und oh, wie ich es liebte – Gesang, Tanz, Theater, Musik! Aber immer noch nagt ein Hunger an mir: wieder eine Gitarre in den Händen zu halten. Zu spüren, wie die Saiten in meine Fingerspitzen schneiden. Meine Seele in Klängen auszuschütten. Ein Jahrhundert ohne Berührung ist eine grausame Ewigkeit.
Und jetzt…
Es ist bald der 30. September 2025. Mein einhundertfünfundvierzigster Geburtstag. Der Dachboden summt lauter denn je. Der Schleier ist dünner als je zuvor.
Vielleicht ist es diesmal soweit.
Vielleicht tritt mein erster sterblicher Gast endlich hindurch – nach Jahrzehnten vergeblicher Versuche wird jemand meinen Ruf erhören.
Die Schattenband steht bereit. Die Bühne ist bereit. Die Nacht pulsiert.
Und vielleicht – nur vielleicht – werde ich nicht nur mit Geistern singen.
An dieser Nacht, meiner Nacht, dem 30. September … werde ich zum ersten Mal seit dem Stillstand meines Herzens nicht allein klingen.
Heute Nacht – ja, diese Nacht – werden wir gemeinsam den Dachboden rocken … am Rande des Nevermore.


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